Die Gründung der FBP
von Dr. Alois Ospelt, Alt-Regierungsrat und ehemaliger Landtagsabgeordneter
Die Ausgangslage - Liechtenstein am Vorabend des 1. Weltkriegs
Politik
Nach der Verfassung von 1862 hatte der Fürst, der in Wien residierte, die Staatsgewalt inne. Er ernannte die Regierung, die Richter und die Beamten. Seine langjährige Regierungszeit (seit 1858), seine zurückhaltende, auf Ausgleich und massvolle Veränderung bedachte Politik sowie seine grosszügigen Zuwendungen sorgten wesentlich für stabile Verhältnisse.
Die Volksvertretung bestand aus dem 15-köpfigen Landtag. Drei Abgeordnete ernannte der Fürst, zwölf wurden indirekt über Wahlmänner erkoren, die das Volk gemeindeweise wählte. Der Landtag wirkte an der Gesetzgebung mit, bewilligte die Steuern und hatte gewissen Einfluss auf die Staatsverwaltung. Abgeordnete waren vorwiegend Vorsteher, Landwirte, Gewerbemänner und Vertreter akademischer Berufe. Massgebliche Persönlichkeiten hielten über Jahrzehnte unangefochten ihr Mandat. Der Landtag war mehr darauf konzentriert, volkswirtschaftliche Fragen zu lösen, als politisch-institutionelle Themen zu behandeln.
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Die allein dem Fürsten verantwortliche Regierung bestand aus dem Landesverweser und zwei liechtensteinischen Landräten. Der Landesverweser war ein aus österreichischen Verwaltungsdiensten berufener Beamter. Ausser dem Landgericht befanden sich alle Gerichtsinstanzen im Ausland. Die Mehrzahl der Richter und Beamten waren Österreicher. Die Politik war stark auf das Kaiserreich Österreich-Ungarn ausgerichtet. Die Verfassung gewährte dem Volk wichtige Grundrechte und demokratische Mitwirkung auf Landes- und Gemeindeebene. Das führte zu gesetzlichen Reformen auf verschiedenen Gebieten.
Es war eine politisch eher ruhige geschichtliche Periode. Liechtenstein vermittelte ein harmonisches Bild nach aussen. Hinter der Fassade und unter der stillen Oberfläche verbargen sich jedoch negative Entwicklungen. Zunehmend verlagerte sich das politische Gewicht vom Landtag auf die Regierung. Der autoritäre Landesverweser In der Maur (1852-1913) neigte zu Dirigismus und erledigte die Regierungsgeschäfte meist allein, ohne die Landräte einzubeziehen. Die Regierung entfremdete sich zusehends vom Volke.
Bevölkerung
Vor Ausbruch des 1. Weltkriegs zählte Liechtenstein etwas weniger als 9‘000 Einwohner. Es wurde mehr Zuwanderung als Auswanderung registriert, ein seit Generationen nicht mehr gekanntes Zeichen einer gewissen Prosperität. Die Bevölkerung war von bäuerlich-genossenschaftlicher Tradition geprägt und konservativ ausgerichtet. Sie bejahte die monarchische Staatsform. Gegenüber Veränderungen und neuen Ideologien war sie kritisch eingestellt. Dementsprechend wählte sie die Volksvertretung. Patriotische Einheit und Zuneigung des Volkes zum Fürsten kamen in Grossanlässen mit landesweiter Beteiligung zum Ausdruck (Landesausstellung 1895, 50. Regierungsjubiläum 1908, 200-Jahrfeier 1912) oder auch im Bau des Regierungsgebäudes (1903).
Wirtschaft
Liechtenstein erlebte bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs jahrzehntelang stetigen wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt. Die Landwirtschaft war auf der Höhe der Zeit. Handwerk und Gewerbe, besonders die Stickerei, waren belebt. Aufgrund des Zollvertrags mit Österreich (1852) hatte sich Textilindustrie angesiedelt. Die Zahl, der in der Industrie Beschäftigten stieg auf fast 700 an, eine Zahl, die erst nach dem 2. Weltkrieg wieder erreicht wurde. Aufstrebender Tourismus stellte sich ein. Grosse Teile der Bevölkerung lebten in einem bis dahin nie erreichten bescheidenen materiellen Wohlstand. Die verhältnismässig guten wirtschaftlichen Verhältnisse liessen das Bedürfnis nach politischer Tätigkeit zurücktreten. Die Finanzlage des Staates war stabil und geordnet.
Auslöser der Parteigründungen
Parteien entstanden in Liechtenstein spät, in einem mehrjährigen Prozess seit etwa 1912/14. Verschiedene Auslösungsfaktoren führten zu ihrer Gründung.
Kriegsauswirkungen
Der Weltkrieg (1914-18) brachte auch in Liechtenstein eine tief greifende Veränderung der Lage. Die wirtschaftlichen Folgen waren verheerend. Mit zunehmender Kriegsdauer wuchs die Not. Es kam zu einer inflationären Teuerung, akuten Versorgungsmängeln an Lebensmitteln und anderen Produkten. Die Geldentwertung brachte die Bevölkerung und den Staat um die Ersparnisse. Die Staatsfinanzen gerieten in eine bedrohliche Lage. Staats- und Privatvermögen waren 1918 weitgehend vernichtet. Die Industrie stand wegen Rohstoffmangels still. Saisonarbeiter konnten nicht mehr ins Ausland. Es herrschte Arbeitslosigkeit und Mangelernährung. Bei Kriegsausbruch nahmen Bevölkerung und politische Führung Partei für die Achsenmächte. Es gab allgemeine Begeisterung für deren militärische Leistungen. Sie schlug bald in Ernüchterung und Enttäuschung um. Mit Kriegsende kam es in Europa zu einem raschen, radikalen und totalen Umbruch der politischen Ordnung. Grosse Monarchien verschwanden. Es entstanden Republiken und neue Nationalstaaten. Überall gab es Unruhen und Revolutionen, in der Schweiz einen Landesstreik. In der allgemeinen Not machte sich Unzufriedenheit im Land breit. Abhilfe wurde gefordert. Es kam zu innenpolitischen Spannungen. Forderungen nach wirtschaftlichen und politischen Veränderungen fanden verstärkt Anklang. Die Zeitumstände begünstigten Reformbestrebungen.
Neue Führungskräfte und Ideen
1914 eröffnete Dr. Wilhelm Beck (1885-1936) ein Rechtsanwaltsbüro in Vaduz. Der damals 29-jährige Jurist hatte sein Studium in Zürich abgeschlossen und in der Schweiz erste praktische Erfahrungen gesammelt. Bereits 1912 begann er, die liechtensteinische Gesetzgebung und Verfassung öffentlich zu kritisieren. Er wurde zum herausragenden Repräsentanten politischer Führung mit neuen sozialliberalen Ideen und Forderungen.
Neues Gedankengut brachten auch die Saisonarbeiter aus der Schweiz mit ins Land. Sie hatten dort Gewerkschaften und Sozialdemokratie kennengelernt.
Zeitungen
Im April 1914 gründete Wilhelm Beck die Oberrheinischen Nachrichten. Bis 1921 war er Redaktor der Zeitung. In ihr verbreitete er seine modernen Ideen und kritisierte die bestehenden Verhältnisse. Sie wurde zum Sprachrohr einer politischen Opposition, die sich um seine Person bildete. Das Liechtensteiner Volksblatt hatte bis dahin ohne Konkurrenz gelebt. Es hatte keinen wesentlichen politischen Anspruch. Sein langjähriger Redaktor Meinrad Ospelt (1844-1934), ein Repräsentant der alten Ordnung, tat sich schwer mit dem streitfreudigen Stil der neuen Zeitung. Für eine Pressearbeit gemäss seiner politischen Gesinnung fand er in Dr. Eugen Nipp (1886-1960) seinen geeigneten Nachfolger und den Gegenspieler zu Wilhelm Beck.
Es waren Zeitungen und ihre Redaktoren, die die Bildung von Parteien auslösten. Sie vereinigten Gleichgesinnte, die eine politische Strömung darstellten. Die Gruppe um das Volksblatt verteidigte die Regierungspolitik und trat für die bestehende Ordnung ein. Sie befürchtete eine totale Umwandlung im Land durch die von den Oberrheinischen Nachrichten ausgehende Bewegung. Sie sah in deren Reformpropaganda eine Gefahr für Grundwerte, Tradition und erhaltenswerte Güter.
Opposition im Landtag – Gruppe der Vier
Bei den Landtagswahlen 1914 wurden neben Wilhelm Beck drei weitere Personen gewählt, die zielbewusst auf Erneuerungen hinarbeiteten. Diese ‘Gruppe der Vier’ brachte ein neues Klima in den Landtag. Es kam zu bislang ungewohnten Redegefechten und lebhaften Auseinandersetzungen. Erstmals wurde von Parteien oder Fraktionen im Landtag gesprochen. Die Gruppe hob sich stark von den übrigen Abgeordneten und deren politischer Gesinnung ab. Sie stellte sich gegen die etablierten Führungskräfte, übte Kritik an der Regierung und erhob Forderungen für sozial Schwächere. Sie betrieb Oppositionspolitik, beflügelt durch die aus dem Krieg entstandenen misslichen Verhältnisse.
Um Landtagspräsident Dr. Albert Schädler (1848-1922) sammelten sich die ‘altbewährten’ Kräfte, die sich gegen die neue Gruppe stellten. Dazu gehörten vorwiegend die vom Fürsten ernannten Abgeordneten Meinrad Ospelt und Alfons Feger (1856-1933). Die konservativen Abgeordneten stützten die Regierungspolitik.
Die Gruppe um Wilhelm Beck sammelte oppositionelle Kräfte ausserhalb des Landtags. In ihrem Presseorgan publizierte sie ihre Grundsätze und Ideen. Sie betonte ihre christlich-soziale Haltung und versprach, für die Interessen des kleinen Mannes, für Arbeiter und Saisonniers, einzutreten.
Neues Wahlrecht – Direkte Volkswahl
Nach dem im Januar 1918 neu eingeführten Wahlrecht wurden 12 der 15 Abgeordneten direkt von den wahlberechtigten Männern gewählt. Vor den folgenden Landtagswahlen kam es erstmals zu einem eigentlichen Wahlkampf mit zahlreichen Stellungnahmen, Wahlvorschlägen und Kommentaren in beiden Zeitungen. Die Gruppe um Dr. Beck trat seit 6. März 1918 als Partei auf und erstellte eine eigene Kandidatenliste. Ein eigentlicher Gründungsakt für die ‘christlich-soziale Volkspartei’, die erste politische Partei in Liechtenstein, ist nicht auszumachen.
Das Volksblatt vertrat die Interessen der konservativ ausgerichteten Gegengruppe. Im Februar 1918 wurde von ‘Geheimsitzungen’ im Gasthof Löwen in Vaduz berichtet. Auch ‘ein aus 18 Männern bestehendes Wahlkomitee’ wurde erwähnt. Gemeint war ein Kreis von Gleichgesinnten um die Volksblattredaktoren Meinrad Ospelt und Eugen Nipp. Sie publizierten eine eigene Kandidatenliste. Sie wollten keine ‘Parteiwahl’, sondern eine ‘Volkswahl’, sie wollten nur eine Partei, die ‘Partei der Liechtensteiner’. Bewusst führten sie auf ihrer Liste auch zwei Kandidaten der Volkspartei auf.
Die Zeitung der Volkspartei nannte die Vorgänge im Löwen eine Parteigründung. Den Kreis von Gleichgesinnten, die sich dort trafen, titulierte sie mit ‘Löwenpartei’ oder ‘Herrenpartei’.
Die Landtagswahlen vom März 1918 brachten der Volkspartei einen beachtlichen Erfolg. Sie errang im Oberland 5 von 7 Mandaten. Ihre Wähler stammten vorwiegend aus Balzers, Triesen und Triesenberg. Der ‘Löwenpartei’ gehörten neben den anderen zwei gewählten Abgeordneten im Oberland wohl auch alle Gewählten im Unterland an. Zu ihrer Enttäuschung nicht gewählt wurden u. a. die von ihr aufgestellten Dr. Albert Schädler und Gustav Ospelt. Die Volkspartei blieb Minderheit im Landtag. Auch die drei vom Fürsten ernannten Abgeordneten, darunter Albert Schädler, waren der Löwenpartei zuzuordnen.
Umbrüche und Turbulenzen nach den Wahlen
Politik der Parteien
Die Volkspartei drängte auf beschleunigte Veränderung. Sie wollte die politischen Volksrechte stärker ausbauen und die parlamentarische Regierungsform einführen. Mit der Parole ‘Liechtenstein den Liechtensteinern’ forderte sie, die Liechtensteiner mehr an Verwaltung und Regierung zu beteiligen. Sie reklamierte soziale Verbesserungen. Die Devise ihrer Aussenpolitik hiess ‘Los von Wien!’. Liechtenstein sollte sich der Schweiz zuwenden und sich nach ihr orientieren. Die Volkspartei stand liberalen und sozialen Ideen nahe, war gegenüber Kirche und Monarchie distanzierter als ihre konservativen Gegner. Einige junge Volksparteianhänger waren republikanisch gesinnt, gegen Kirche und Monarchie kritisch eingestellt und vertraten sozialdemokratische Ideen. Vom politischen Gegner wurde die Volkspartei als linkslastige, Kirche und Monarchie gefährdende ‘Partei der Roten’ bezeichnet.
Die revolutionären Ereignisse in Europa am Ende des Krieges gaben der Volkspartei günstigen parteipolitischen Rückhalt, um ihre national-liberalen Staatsgrundsätze zu verkünden und das veraltete monarchische Regierungssystem in Liechtenstein als ‘verkappten Absolutismus’ zu bezeichnen. Die Partei zielte auf verfassungsrechtliche Reformen. Die Umbrüche in Europa verführten ihre Exponenten dazu, den Gang der Geschichte im Sinne der angestrebten Veränderung auch in Liechtenstein zu beschleunigen.
Die konservativen Kräfte standen näher beim Fürstenhaus und bei der Regierung mit dem Landesverweser. Sie wollten die aussen- und wirtschaftspolitische Verbindung mit Österreich weniger radikal und rasch abbauen, die demokratischen Rechte zurückhaltender ausbauen. Sie stemmten sich gegen das progressive Drängen der Volkspartei. Weil ihnen die Geistlichkeit näher stand, wurden sie von ihren Gegnern ‘Schwarze’ genannt.
Lange Zeit sträubten sich die Kreise um das Volksblatt dagegen, eine organisierte Partei zu bilden. Der beachtliche Erfolg der Volkspartei bei den direkten Volkswahlen änderte ihre Haltung. Im Juni 1918 begannen vier Männer aus Vaduz, eine solche Partei zu gründen. Schon im September war sie organisiert, mit Ortsgruppen in allen Gemeinden des Landes. Im Oktober bildete sich ein Presseverein, der das Volksblatt als Organ für die in Gründung befindliche Fortschrittliche Bürgerpartei übernahm.
Regierungssturz - Novemberkrise
Im neu gewählten Landtag forderte Wilhelm Beck eine Änderung des Regierungssystems, letztlich eine Verfassungsrevision. Liechtenstein müsse von Inländern regiert werden. Zusammen mit dem in Innsbruck wohnhaften Liechtensteiner Juristen Martin Ritter (1872-1947) bereitete er den Sturz des seit 1914 amtierenden Landesverwesers von Imhof (1869-1922) vor. Die beiden überredeten auch Landtagsvizepräsident Fritz Walser (1870-1950) zum Coup. Danach sollte Imhof an einer kurzfristig auf 7. November 1918 anberaumten Sitzung des Landtags seinen Rücktritt erklären. Sie drohten mit Unruhen und Demonstrationen, so dass sich Imhof dem Druck beugte und einwilligte. Zu einer Besprechung unmittelbar vor der Sitzung waren die fürstlichen Abgeordneten nicht eingeladen. Den anwesenden Volksabgeordneten wurde erklärt, der Landesverweser müsse und werde abdanken. Der Landtag müsse ‘die Regierung in die Hand nehmen’, ansonsten geschehe es ohne den Landtag. Es habe sich bereits ein Organisationskomitee der Volkspartei gebildet.
Zur Landtagssitzung kamen die Abgeordneten grösstenteils ahnungslos und ohne Kenntnis von den vorgefassten Plänen. Sie standen unter Druck und waren eingeschüchtert. Der Zuhörerraum war überfüllt, im Gang standen viele Leute. Die Stimmung war angeheizt. Der Landesverweser erklärte seinen Rücktritt, er stehe dem Wunsch der Bevölkerung nicht mehr entgegen, dass ein Liechtensteiner an seine Stelle trete. Die fürstlichen Abgeordneten Dr. Albert Schädler, Kanonikus Johann Baptist Büchel (1853-1927) und Johann Wohlwend (1872-1960) erkannten den geplanten Vorgang als verfassungswidrig, als Affront gegen den Fürsten. Sie wurden beschimpft. Ihr Antrag, in eine Kommissionsberatung zu gehen, wurde abgelehnt. Die Mehrheit, auch Imhof, sah die Verfassung nicht verletzt. Sie wählte als provisorische Regierung einen Vollzugsausschuss mit Martin Ritter als Vorsitzendem sowie Wilhelm Beck und Emil Batliner (1869-1947) als Regierungsräten. Batliner, telefonisch über seine Wahl informiert, lehnte ab. An einer Regierung, die sich ohne Wissen des Fürsten gebildet habe, nehme er nicht teil. An Batliners Stelle wurde Josef Marxer (1871-1958) gewählt. Imhof übergab seine Amtsgeschäfte sofort an den Vollzugsausschuss. Nach seiner Ansicht war Gefahr in Verzug. Er bat den Fürsten, nachträglich seine Amtsenthebung und die Fortführung der Amtsgeschäfte durch den Vollzugsausschuss zu genehmigen. Die fürstlichen Abgeordneten legten ihre Mandate unter Protest nieder. Die neue Regierung wurde sofort tätig, ohne ihre Bestätigung aus Wien abzuwarten.
Nach diesen Vorkommnissen herrschte grosse Aufregung im Land. Es entbrannte eine Pressefehde um die Frage, ob Imhof und die Landtagsmehrheit verfassungswidrig gehandelt hätten. Das Volksblatt mit Redaktor Eugen Nipp kritisierte den Ablauf der Sitzung scharf. Kritik übte es auch an Imhof und Fritz Walser. Sie hätten gegen das Volk und die Verfassung gehandelt. Für die Unterländer Abgeordneten nannte es mildernde Gründe. Sie seien ahnungslos überrumpelt worden, eingeschüchtert auch durch die Menge Leute, die die Advokaten Ritter und Beck zusammengetrommelt hätten. Den Vorgang qualifizierte es als Verfassungsbruch und Staatsstreich. Man stelle sich nicht gegen Veränderungen und wolle ‘ein neues, festes, modernes Staatsgebäude’ errichten. Entscheidungen hätten jedoch auf der Grundlage der Verfassung zu erfolgen.
Gegen den Vollzugsausschuss intervenierten auch die fürstlichen Abgeordneten. Sie konnten dem Fürsten ihre Sicht erörtern, der sie und den Landesverweser nach Wien gerufen hatte. Auch Martin Ritter sprach vor und bat um Anerkennung der neuen Regierung und Ausarbeitung einer Verfassungsänderung. Der Fürst verweigerte ihm eine entsprechende Proklamation und sanktionierte die Wahl des Vollzugsausschusses nicht. Er genehmigte den Rücktritt Imhofs und beauftragte ihn, ‘die Regierungsgeschäfte unter Mitwirkung des Vollzugsausschusses provisorisch fortzuführen’.
In der Folge verschärften sich im Land die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern. Die Gegnerschaft der Beschlüsse vom 7. November machte sich bemerkbar.
Staats-, Regierungs- und Verfassungskrise im Dezember 1918
Martin Ritter verweigerte die Amtsübergabe an Imhof. Die Entscheidung aus Wien wurde nicht akzeptiert. Ritter und Wilhelm Beck suchten in Versammlungen in verschiedenen Gemeinden Stimmung für ihre Sache zu machen. Sie stiessen dabei auf Widerstand, vor allem im Unterland. Das Volksblatt protestierte gegen ihre Aktionen.
Auf 2. Dezember 1918 wurde eine Landtagssitzung angesetzt. Es ging um den Erlass des Fürsten über die provisorische Fortführung der Regierung durch den Landesverweser. Ritter stellte sich dagegen. Er zielte auf Auflösung des Landtags und strebte Neuwahlen an. Er drohte, wenn der Vollzugsausschuss übergangen werde, griffen die Leute zur Selbsthilfe. Der verfassungswidrige Regierungswechsel sollte mit Druck von der Strasse durchgesetzt werden. Und in der Tat folgten 400-500 Männer, vorwiegend aus Balzers, Triesen und Triesenberg, einem Aufruf der Oberrheinischen Nachrichten und kamen zum Regierungsgebäude. Stiegenhaus, Gänge und Landtagssaal waren übervoll besetzt mit Anhängern der Volkspartei.
Gleichentags versammelten sich in Bendern 300-400 Männer, Anhänger der mittlerweile schon organisierten Bürgerpartei. Sie wollten am Regierungssitz in Vaduz Treue gegenüber dem Fürsten und Misstrauen gegenüber dem Vollzugsausschuss bekunden. In Schaan schlossen sich weitere Gesinnungsfreunde dem Zug an. Als er beim Regierungsgebäude ankam, drohte die Situation ausser Kontrolle zu geraten. Schwere Zusammenstösse und Blutvergiessen waren zu befürchten. Besonnenes Auftreten der führenden Personen auf beiden Seiten verhinderte das Schlimmste. Es blieb bei einzelnen Tätlichkeiten. Die Landtagssitzung wurde nicht abgehalten. Eine sachliche Diskussion war nicht möglich.
Am 6. Dezember 1918 kam Prinz Karl von Liechtenstein (1878-1955) ins Land. Er war vom Fürsten beauftragt, in der kritischen Lage zwischen den Parteien zu vermitteln. Erfolgreich handelte er mit Landtagsvertretern einen Kompromiss aus. Am 10. Dezember 1918 beschloss der Landtag das ausgehandelte 9-Punkte-Programm. Damit wurde die durch den Novemberputsch ausgelöste Regierungs- und Verfassungskrise beendet. Es kam zu einem Ausgleich. Ein Mittelweg zwischen Parlamentarismus und Monarchie wurde gefunden. Der Fürst sanktionierte den Verfassungskompromiss am 13. Dezember 1918 und ernannte Prinz Karl auf Wunsch des Landtags zum Landesverweser. Die Volkspartei hatte Martin Ritter geopfert. Nur wenige Wochen war er dem provisorischen Vollzugsausschuss vorgestanden.
22. Dezember 1918 – offizieller Gründungstag der Fortschrittlichen Bürgerpartei
An diesem Tag versammelten sich Vertreter aus allen Gemeinden Liechtensteins im Gasthof Löwen in Vaduz zur offiziellen Gründung der Fortschrittlichen Bürgerpartei. Was vier Männer im Juni 1918 angestossen hatten, war nun geschafft: Gesinnungsfreunde um das Liechtensteiner Volksblatt hatten Gleichgesinnte im ganzen Land gesammelt und sich formell zu einer Partei zusammengeschlossen. Die Vorkommnisse der vergangenen Wochen hatten den Aufbauprozess beschleunigt. Ihre Exponenten waren für einen Putsch nicht zu haben gewesen und hatten den Widerstand gegen die provisorische Regierung mobilisiert. Sie konnten dabei auf bereits geleistete Aufbauarbeit zählen.
Das politische Programm, das die Bürgerpartei bei der Gründung beschloss, stützte sich wesentlich auf den ausgehandelten, in den Landtagsbeschlüssen vom Dezember niedergelegten Kompromiss. Dieser war Grundlage für die spätere Verfassungsreform. Damals formulierte Leitgedanken prägen die Bürgerpartei bis heute. An erste Stelle setzte sie das Bekenntnis zur Monarchie. Veränderungen der staatlichen Ordnung sollten nur im Einvernehmen mit Fürst und Fürstenhaus erfolgen. Die Partei vertrat auch Fortschritt und Neuerungen. Sie sollten jedoch reiflich überlegt und nicht überstürzt erfolgen. Bewährtes sollte erhalten bleiben. Alles sollte ‘in den Bahnen der Ordnung und Gesetzlichkeit’ geschehen. Die Gründungsmitglieder bekannten sich zu diesen Fundamenten des Staates, die sie eben noch gefahrvoll erschüttert gesehen hatten.
Die Initianten und Gründungsväter der Fortschrittlichen Bürgerpartei
Im Frühjahr 1918 formierte sich eine um Dr. Wilhelm Beck gebildete Gruppe von Abgeordneten und Gesinnungsfreunden zu einer Partei, der christlich-sozialen Volkspartei mit eigener politischer Gesinnung und staatspolitischer Ausrichtung. Sie hob sich deutlich von den übrigen Abgeordneten ab, stellte die bestehende Ordnung in Frage und drängte auf raschen und weitgehenden Umbruch der Verhältnisse. Bürger, die mit dieser Stossrichtung nicht einverstanden waren, hatten sich schon Jahre zuvor zusammengefunden und ihre politischen Ansichten im Liechtensteiner Volksblatt vertreten. Sie waren durch die neue Partei herausgefordert, sich verstärkt zu formieren und Position zu beziehen, sträubten sich jedoch lange dagegen, auch eine politische Partei zu gründen. Sie taten dies aus innerer Überzeugung. Sie wollten keine Partei, fürchteten Unfriede und Spaltungen im Volke. Sie setzten auf gemeinsame Lösungen, auf eine einzige Partei der Liechtensteiner.
Durch den deutlichen Wahlerfolg der Volkspartei und das enttäuschende Abschneiden verdienter Persönlichkeiten der alten Richtung wurde diese Haltung in Frage gestellt. Ein Teil der bewahrenden Kräfte beharrte jedoch dabei, auch Dr. Albert Schädler, ihre prominenteste politische Persönlichkeit. Andere Gesinnungsfreunde erkannten im Erfolg der Volkspartei das Ergebnis eines organisierten, koordinierten und zielgerichteten Vorgehens einer politischen Partei. Sie wollten ihre Kräfte ebenfalls bündeln und eine eigene Partei gründen. Vier Männer, Gustav Ospelt, Meinrad Ospelt, Dr. Eugen Nipp und Franz Verling, entschlossen sich im Juni 1918 dazu. Sie wurden so zu Initianten und Gründungsvätern der Fortschrittlichen Bürgerpartei.
Dr. Albert Schädler (1848 – 1922) lehnte die Bildung von Parteien ab. Bei den ersten direkten Wahlen 1918 wurde er enttäuschend abgewählt, danach vom Fürsten zum Abgeordneten ernannt. Aus Protest gegen die verfassungswidrigen Vorgänge im November 1918 legte er sein Mandat vorübergehend nieder und zog sich wenig später endgültig aus der Politik zurück.
Nach Medizinstudien in Wien, Zürich und Giessen, Sprachstudien in Paris, Lyon und London, führte Dr. Albert Schädler gemeinsam mit seinem Bruder Rudolf eine Arztpraxis in Vaduz. Er wirkte als Kurarzt in Bad Ragaz und Pfäfers und als medizinischer Experte für die Regierung. Er förderte das kulturelle und gesellschaftliche Leben, war Mitbegründer und erster Vorsitzender des Historischen Vereins (1901-22) und publizierte zahlreiche historische Beiträge.
34 Jahre (1882-86 und 1890-1919) war er Präsident des Landtags. Konservativ-klerikal gesinnt, vertrat er auch christlich-soziale Ideen. Er prägte die Landespolitik und war der profilierteste Exponent der etablierten, bewahrenden Kräfte. Um ihn sammelten sich im Landtag ab 1914 die Gegner der Gruppe um Wilhelm Beck. Schädlers Gedankengut floss in die Gründungsideen der Bürgerpartei ein. Er darf als ein geistiger Vater der Partei gelten.
Die Gründungsväter der FBP
Ideelle Gründerväter, mit gleichem Ideengut, jedoch nicht aktiv an Parteigründung beteiligt:
Dr. Albert Schädler (1848-1922)
Kanonikus Johann Baptist Büchel (1853-1927)
Die vier Initianten der Fortschrittlichen Bürgerpartei:
Meinrad Ospelt (1844-1934)
Gustav Ospelt (1877-1934)
Dr. Eugen Nipp (1886-1960)
Franz Verling (1889-1964)
Auswahl an Gründungsmitgliedern:
Josef Ospelt, Vaduz (1881-1962)
Bernhard Risch, Vaduz (1879-1962)
Fritz Walser, Schaan (1870-1950)
Johann Wanger, Schaan (1881-1938)
(Franz) Josef Marxer, Eschen (1871-1958)
Emil Batliner, Mauren (1869-1947)
Peter Büchel, Mauren (1872-1958)
Johann Hasler, Gamprin (1859-1934)
Karl Kaiser, Schellenberg (1866-1935)
Johann Wohlwend, Schellenberg (1872-1960)
Franz Josef Hoop, Ruggell (1861-1925)